Wudang-Shan

Heiligstes Gebirge unter dem Himmel

Die Wudang-Berge, heilige daoistische Berge im Nordwesten der Provinz Hubei in Zentralchina gelegen, auch ‚Heiligstes Gebirge unter dem Himmel‘ genannt, erstrecken sich über eine Fläche von 400 km.
In dieser schönen Landschaft finden sich 46 Haupttempel und Nonnenklöster, 72 Schreine und zahlreiche Höhlen und Einsiedeleien. Auf verwunschenen alten Steinwegen kann man den höchsten der 72 Gipfel, den 1600 m hohen Berg Tianzhu erklimmen, auf dessen Spitze sich der Goldene Tempel befindet.

In der Abgeschiedenheit und Ruhe der Wudang-Berge fanden viele daoistische Einsiedler seit Jahrhunderten Zuflucht, um sich von der materiellen Welt zurückzuziehen und ihren daoistischen Übungen nachzugehen. Ihr Ziel war es, im Einklang mit den Erscheinungen der Natur zu leben, sich dem Strom des Lebens hinzugeben und durch verschiedene Meditationspraktiken das Leben zu verlängern.

Ich erfuhr das erste Mal von den Wudang-Bergen, als ich den Film ‚Die Tochter des Meisters‘ sah. Die landschaftliche Schönheit, die Ausstrahlung der Klöster und seiner Menschen sowie die uralte Tradition des Wudang-Stils ließen mich im Jahre 1993 zum ersten Mal in die Wudang-Berge aufbrechen.

Und tatsächlich findet man dort ein Stück des alten Chinas, wie es auch in dem Film geschildert wird. Mönche und Nonnen mit langen Haaren zu einem kleinen Dutt gebunden, alte Mönche mit weißen Bärten und daoistischen schwarzen oder gelben Gewändern lassen einen in die Vergangenheit entrücken.

Und doch ist dies Gegenwart. Die Tempel und Klöster scheinen mit der Landschaft zu verschmelzen. In aller Herrgottsfrühe dringen einem daoistische Gesänge aus den Klöstern ans Ohr und fangen einen ein. Diese philosophischen Gesänge erzählen vom Daoismus, unterrichten über traditionelle chinesische Medizin, über die Gesetze der Natur, die menschliche Psychologie und das Verhalten von Tieren.

In ihren Andachten beten die Mönche und Nonnen für die Milde der Elemente, Wohlstand und Friede. Ruhe und Bescheidenheit geht von den Klöstern aus, und die daoistische Philosophie des ‚Wu Wei‘, oder ‚Nicht Handelns‘, des ‚Sich dem natürlichen Lauf der Dinge Hingebens‘ ist hier spürbar. Die daoistische Atmosphäre ist allgegenwärtig.

Seitdem eine Eisenbahn die Wudang-Berge mit dem Rest der Welt verbindet und die chinesische Reform- und Öffnungspolitik auch hier Einzug hielt, finden viele Touristen ihren Weg hierher. Der Großteil der Besucher sind jedoch zahllose Pilger, nicht nur aus der Volksrepublik, sondern auch Auslandschinesen aus Taiwan, Hongkong und Singapur, die hier an der Wurzel ihr religiöses Heil suchen.

Doch auch wenn diese heilige Berggegend in den letzten Jahren etwas von ihrer Ruhe und Abgeschiedenheit verloren hat, findet man hier immer noch ein Stück klassisches China.

Autorin: Marianne Herzog, 1994